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Wie für die Krise bauen?
Ein case study house in Berlin-Wedding für unter 600 Euro/qm

Die Wahrnehmung der zentralen Bezirke Berlins ist besetzt durch eine Mittelstands- Erbengesellschaft, die eine perfekte Fassade aufgebaut hat. Man gibt sich aufgeklärt grün und gründet im fortgeschrittenen Alter die obligate Kleinfamilie – um sich schliesslich als monokulturelle Baugruppe doch noch den Traum vom Eigenheim zu erfüllen. Hinter diesem Konzept des Urban Village, beschleunigt durch die Abschaffung des sozialen Wohnungsbaus 2003 und die damit einhergehende Immobilienspekulation aber steht der Traum einer pulsierenden Grossstadt, in der es sich so beschaulich leben lässt wie auf dem Dorf.

Wedding ist von diesem Geschäftsmodell nur einen Steinwurf entfern, aber 100% anders. Die Bernauer Strasse, auf der früher die Mauer verlief, ist immernoch die Grenze. Auf der Prenzlauer Berg - Seite entstehen gerade riesige Townhouses: maximale Ausnutzung und maximaler Profit, kein qm unter 2500 Euro - der Pfarrer der Zionskirche dankt Gott für den geringen Ausländeranteil.

Wir selbst waren, als Gewerbe-Zwischenmieter der Berliner Stadtreinigung in exklusiver Lage am Landwehrkanal in Kreuzberg, plötzlich in der schizofrenen Situation, eine riesige Abfindung für einen früheren Auszug angeboten zu bekommen, 40.000 Euro für 12 Monate. Dafür könnten wir jetzt keine zwanzig Quadratmeter Wohnfläche am selbigen Ort kaufen.

In welchem  Kontext steht ein Gewächshausaufbau im Wedding? Kann er die Gegenwart beschreiben? Ist er eine Antwort auf aktuelle Stichworte wie Klima und ökologisches Bauen? Ist das Gewächshaus ein Lowtech-Billig-Ökohaus?
Wenn das Fabrikgebäude über hundert Jahre alt ist und die umliegenden Häuser überwiegend Gründerzeithäuser oder Nachkriegswohnhäuser sind und wenn die letzten Lückenschließungen in den 1980er Jahren aufgehört haben, was bedeutet das für einen bauliche Intervention? Seit der Wende bezieht sich neue Architektur in den meisten Fällen auf Architektur der Vergangenheit, eine Befriedung. Ein Gewächshaus im armen Wedding aber ist der größtmögliche Fremdkörper, nicht für die Ewigkeit, (die es nicht gibt,) adaptierbar an Klimawandel, ein Versuchshaus, denn niemand hat bisher in Europa etwa unter einem Foliendach gelebt.

Eine Reihe von Fragen nach der Art des Wohnens und nach der Finanzierung, die wir uns selbst gestellt haben, bildeten den Ausgangspunkt für unser Projekt:
Wir vermuteten erstens, dass es für viele begehrenswert erscheint, in einem Penthouse zu wohnen und dass doch nur wenige das Geld haben, sich diese Lifestyle-Option zu erfüllen. Bedeutet die Option Wohnen auf dem Dach also, dass man über ein Erbe verfügen muss? Oder über einen hohen Kredit mit entsprechenden Sicherheiten? Vielleicht gibt es noch eine andere, dritte Lösung jenseits dieser Abhängigkeiten?
Dächer sind in der Stadt generell wenig erschlossene Orte, sieht man von meist sehr aufwändig und teuer ausgebauten Dachwohnungen auf Altbauten ab. Andrerseits bietet der Standort Dach gerade in einer Stadt wie Berlin unbestreitbare Vorteile. Das Dach ist der hellste Ort, gerade in einer Stadt mit langen Wintern, in der Licht und Sonne willkommen sind und man sich nur selten vor zu viel Licht schützen muss.
Wir stießen bei unserer Recherche auf eine noch weitgehend ungenutzte Ressource. Die Dächer von Gewerbebauten, die meist Flachdächer sind. Zumindest in der Theorie bieten sie ein großes Potential an ungenutzter Baufläche. Da die Statik meist großzügig dimensioniert ist, lässt sich zumindest eine leichte Struktur ohne Probleme aufsetzen. Bei älteren Bauten handelt es sich nicht selten um die die oberste Geschossdecke eines Hauses, da der im  Krieg zerstörte Dachstuhl nicht wieder aufgebaut wurde. In solchen Fällen - dies galt dann auch für unser Beispiel - gibt es noch den zusätzlichen Vorteil, dass man über einen direkten Zugang zur Dachfläche und einen Lastenaufzug verfügt.
Bei üblichen Dachausbauten muss meistens ein bestehendes Giebeldach geöffnet und dann mit hohem Aufwand umgebaut werden. Im Fall der Fabriketagendachflächen, gibt es aber die Möglichkeit, eine sehr leichte Konstruktion direkt aufzusetzen, indem sich der Aufbau über einen Ringanker (*) auf den Außenwänden abstützt. Die Dachhaut muss in einem solchen Fall dann gar nicht geöffnet werden.

Welche Vorteile bietet eine solche Leichtkonstruktion und vor allem: Wie sieht sie aus?
Der Typus Gewächshaus, so wie er halbfertig zu kaufen ist, bot sich an. Aber ist ein solches Gewächshaus überhaupt eine Antwort auf aktuelle Stichworte wie Klimaschutz und ökologisches Bauen? Kann man diesen Typus als Modell eines Lowtech-Billig-Ökohaus betrachten? Wir sind - sozusagen eine Arbeitshypothese - davon ausgegangen. Als Anhaltspunkt für das Entwurfskonzept bot sich der Weg an, den die französischen Architekten Lacaton Vassal schon seit Jahren in unterschiedlichen Größen und Typologien (Bauwelt Heft.... ) ausprobieren. Wir haben mit den Architekten Kontakt aufgenommen.
In jedem Fall wollten wir die monatlichen Miet/Pachtkosten so gering wie möglich zu halten. In unserem Fall zahlen wir nur die Pacht und Nebenkosten, 225 Euro plus 150 Euro (und zwar für eine Dachfläche von 150 Quadratmeter, wobei sich als Grundfläche für den zur Hälfte zweigeschossig nutzbaren Aufbau 90 Quadratmeter ergab).

Wie lässt sich überhaupt ein „freies“ Dach finden, wenn es gar keinen Immobilienmarkt für Gewerbedachflächen gibt?
Wohnungsbaugesellschaften haben heute nur noch selten Gelder für zusätzliche neue Investitionen, wir wurden hier trotz längerer Suche nicht fündig. In unserem Fall half der Zufall. Wir fanden einen privaten Besitzer, der nicht sofort in den Kategorien Wertsteigerung und Bestandschutz denkt und der offen war für unser ausgefallenes Bauvorhaben. Klar war, dass der langfristige Pachtvertrag (30 Jahre) den Wert der Immobilie am Markt zumindest einen Stück weit mindern würde.

Wie geht preiswert bauen?
Auf dem Dach eines bestehenden Hauses zu bauen bietet eine Reihe von grundsätzlichen Vorteilen: kein zusätzliches Grundstück ist nötig, für die Erschließung von Heizung, Wasser, Strom, Telefon sowie die Einbruchsicherung ist bereits gesorgt.
Das Konzept von Lacaton Vassal, den Standardbausatz eines Gewächshaus als Readymade zu nehmen, wollten wir auch beim Innenausbau weiterverfolgen. Daher haben wir Industrieprodukte von der Stange in einem anderen Kontext verwendet (z.B. Fliesenbauplatten als mobile Wärmedämmwand, eine Kellertür wurde zur Eingangstür etc.).
Die Idee war: ein neues Haus muss nicht neu aussehen. Also haben wir viele gebrauchte Teile verwendet (z.B. bei ebay ersteigerte Aluminium-Vintage-Fenster) und wir haben häufig die preiswerteste, aber stabil wirkende Standardware gewählt (Waschbecken, Dusche, Toilette, Zimmertüren, Fliesen, Türgriffe). 

14 Monate Verhandlungen mit dem Bauamt – Was waren die Probleme?
Das lässt sich nur stichwortartig zusammenfassen:
– Überschreitung des Bauvolumens aufgrund eines 50 Jahre alten Bebauungsplans
– Überschreitung der Abstandsfläche zum Vorderhaus
– Begrenzung der Höhe des Aufbaus durch Brandschutzvorschriften (Traufhöhe)
– Einbauten nur aus feuerfesten Baustoffen zulässig (kein Holzständerwerk sondern Gasbeton)
– Fortführung einer Brandwand
– Denkmalschutz
– Genehmigungsprozess des Gewächshausdaches aus zwei transparenten Folien des Gewächshausherstellers, zwischen die Luft gepumpt wird (*)

Welche Entscheidungen hat der  Architekt getroffen?
Die Rolle des Architekten ist in einem solchen Fall sicher schwierig, in jedem Fall ist sie aufwändig: einerseits sind aus den oben genannten Gründen viele Rahmenbedingungen vorgegeben, andererseits fällt durch die Anpassungen viel zusätzliche Detailarbeit an - von der komplexen Frage der Autorschaft des Vorhabens ganz zu schweigen.

Welche Vorzüge hat das Leben im Gewächshaus?
Lebensweise, Material und Ort bedingen sich gegenseitig immer wieder neu: Mit wechselnden Jahreszeiten ändert sich die Nutzung des Hauses. Im Winter sind vor allem die gemauerten Räume konventionell bewohnbar, der offene Mittelteil kann mit einem Kamin (Holz) zeitweise beheizt werden und ist mit wärmerer Kleidung nutzbar. Diesen Bereich schützen wir im Sommer mit Verschattungsvorhängen (Sun screens für Gewächshäuser) vor Aufheizung durch Sonneneinstrahlung; bei kühleren Temperaturen kann so zusätzlich isoliert werden. Ein Propeller sorgt dafür, dass im Winter die warme Kaminluft wieder nach unten geleitet wird und dass im Sommer bei geöffneten Schiebetoren und offener Dachklappe die warme Luft unter dem Dach abzieht.
Für die mobile Nutzung der Räume steht viel Mobiliar auf Rollen, wie die selbstgebaute Kücheninsel (mit Gasherd, Elektroherd, Elektrobackofen, Kühlschrank). Für die Küchenspüle gibt es einen Sommer- und Winteranschluss. Entscheidungen über den Gebrauch der Räume können so immer wieder neu getroffen werden.

Wie lässt sich vermeiden, dass ein solcher Bau aussieht wie eine typische Neubauwohnung? 
Man kann zum Beispiel von Reisen Armaturen, Beschläge mitbringen und dabei preiswerte und schöne Elmente finden, die weit weg sind vom üblichen Ikea-Standard. Homogene Gleichförmigkeit genauso wie Status-Symbolik lassen sich so vermeiden.
Wir haben zum Beispiel aus China eine sogenannte (*) “Hegemoniedusche” mitgebracht, (ein Kombigerät Lüftung und Heizlampe, das es auf dem europäischen Markt so nicht gibt) und einen dimmbaren LED-Fluter (den Prototypen einer LED-Firma in Shenzhen) der uns jetzt zur Beleuchtung des offenen Bereichs im Mittelteil des Gewächshauses dient.
Den größtmöglichen Kontrast zur industriellen Ästhetik des Gewächshauses stellt der große Kamin her, der sich als Antwort auf das „steinerne Berlin“ am Post-Schinkel-Klassizismus der Neuen Reichskanzlei orientiert. Er ist folgerichtig aus rotbraunem Kalkstein mit  weißschwarzer Marmorierung gebaut.

Hat der Prototyp einen Namen?
Er heißt „Hegemonietempel“, in Anlehnung an die oben erwähnte chinesische “Hegemoniedusche”, die sich in China in fast jeder Neubauwohnung findet. 

Christian von Borries, Vera Tollmann